Grenzgänge
Interview mit Karsten Dittmann zum Start im Kirchlichen Dienst in der Polizei
Im August 2024 ist Dr. Karsten Dittmann vom Gemeindepfarramt in den Kirchlichen Dienst in der Polizei gewechselt. Er unterrichtet als Nachfolger von Werner Schiewek „Ethik im Polizeiberuf“ an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster-Hiltrup und arbeitet mit im Zentrum für ethische Bildung und Seelsorge (ZeBuS) im Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalentwicklung der Polizei NRW (LAFP NRW) in Selm-Bork. Nach über einem halben Jahr im neuen Tätigkeitsfeld hat Polizeipfarrerin Stefanie Alkier-Karweick ein Gespräch über die erste Zeit geführt.
Stefanie Alkier-Karweick: Neben der Theologie ist die Ethik deine Branche. Du bewegst dich von daher in deiner neuen Stelle nicht auf fremdem Gebiet, sondern kannst gleich in zwei Institutionen deine Expertise zum Klingen bringen: an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster und am Zentrum ethische Bildung und Seelsorge am LAFP in Selm. Die Ethikräume in Selm tragen den Namen „Grenzgang“ nicht ohne Grund, denn polizeiliche Arbeit kann sicherlich als ein dauerhafter Grenzgang verstanden werden… Bei einer Betrachtung nach hundert Tagen: Welche fünf Begriffe kommen dir angesichts deines persönlichen Grenzgangs zwischen den Institutionen in den Sinn?
Karsten Dittmann: Mir fällt erstmal eine meiner ersten Andachten im Vikariat ein. Darin ging es um die Grenze und den Baum der Erkenntnis. Inspiriert war das von Paul Tillich, der die Grenze mal als fruchtbaren Ort der Erkenntnis bezeichnet hat. Ich konnte mich immer gut mit Tillich identifizieren, der sich als Grenzgänger zwischen Theologie und Philosophie, Religion und Kultur verstand. Am Anfang des Vikariats habe ich damals versucht, herauszufinden wo ich eigentlich stehe, wo ich mich verorte. Jetzt, wo ich nicht mehr Gemeinde- sondern Polizeipfarrer bin, stellt sich die Frage erneut. Insofern ist mein erster Einfall sehr persönlich: Das Wort Erkenntnis. Ich glaube: Wenn man den sicher eingehegten Bereich verlässt und Neuland betritt, dann kann die Grenze wirklich zum fruchtbaren Ort werden.
SAK: Dein fruchtbarer Ort wächst also in dem Bereich des Dazwischen und damit auch in dem der Begrenzung. Das allein ist natürlich eine Erkenntnis. Aber gibt es denn schon einen etwas konkreteren Erkenntnisgewinn, der dabei hilft, uns deine Arbeit und deinen Alltag besser vorstellen zu können?
KD: Wenn ich den Gedanken fortsetze, dann würde ich sagen: Im Moment bedeutet das vor allem das Verlassen der Komfortzone. Ich habe mich zwar intensiv mit Ethik befasst, auf mein theoretisches Wissen kann ich mich aber nicht zurückziehen wie hinter einen schützenden Zaun. Ethik im Kontext Polizei verlangt, dass ich mir noch einmal neu ethische Fragen stelle. Und auch, dass ich mich den aufgeworfenen Fragen von DHPol-Studierenden oder von Polizist:innen stelle, die die Angebote des ZeBuS besuchen.
Meine ZeBuS-Kollegin Johanna Wagner hat unsere Rolle mal sehr schön als „Ethikscouts“ beschrieben. Wir machen uns gemeinsam auf den Weg: Ich mit meinem Ethikwissen, die Polizist:innen mit ihrem Polizeiwissen. Jenseits der Komfortzone stellen wir dann fest: Wir kennen uns nicht aus. Für Ludwig Wittgenstein führt dieses Eingeständnis ins philosophische Nachdenken. Was ist Führung? Was bedeutet Neutralität? Was ist Gewalt? Was sind ethische Aspekte polizeilicher Lagen wie Entführungen und Geiselnahmen oder Demonstrationen, die in Gewalt umschlagen? Was bedeutet Menschenwürde zu achten und zu schützen im polizeilichen Alltag? Was ist polizeilicher Alltag? Um die polizeiliche Lebenswelt zu erkunden, stehen in Zukunft eine ganze Reihe Hospitationen an.
SAK: Ich stelle mir das Verlassen deiner “Komfortzone” auch als ein Eröffnen neuer Denk-Spielräume vor. In der polizeilichen Arbeit scheint ja vieles erst einmal sehr konkret, handgreiflich, leiblich – und dann braucht die Umsetzung des Gewaltmonopols doch viel Hirnschmalz, das Verweben des Handgreiflichen mit dem Durchdenken. Was erwartest du von den Hospitationen, in denen du ja all dem näherrückst: dem Anwenden von Gewalt, dem Aushalten von bedrückenden Situationen, der Gefahrtragungspflicht – was für ein Begriff!
KD: Praktisch erwarte ich von den Hospitationen, mich einer Binnenperspektive zumindest anzunähern – auch wenn ich immer nur Beobachter bleibe. Gerade heute habe ich bei einer Hospitation erlebt, wie Polizei und Feuerwehr gemeinsam ein Anschlagszenario geübt haben. Die Polizist:innen wussten nicht, was sie am Einsatzort erwartete. Im Szenario war ein Auto in eine Menschengruppe gefahren. Verletzte lagen am Boden. Bei der Ankunft der Polizei schoss ein flüchtender Maskierter um sich. Die Polizist:innen mussten sich erst einmal einen Überblick über die Lage verschaffen. Der schon angerückte Rettungswagen fuhr zunächst wieder aus der Gefahrenzone. Die Verletzten schrien um Hilfe. Einzelne Personen zerrten an den Polizisten, dass sie den Schwerverletzten helfen sollten. Trotzdem mussten die Polizist:innen erst einmal sicherstellen, dass sich im Fahrzeug keine Spreng- oder Brandvorrichtungen befanden, keine der Personen, die auf die Polizist:innen einwirkten, möglicherweise Komplizen sind und der Angreifer nicht weiter Schüsse abgeben konnte.
Es war nur eine Übung, aber den Stress, dem die Polizist:innen ausgesetzt waren, habe ich auch selbst körperlich gespürt. Bis den ersten Verletzten direkt geholfen werden konnte, vergingen für uns Beobachter quälend lange Minuten. Wie müssen Betroffene sich in so einer Situation fühlen? Einer aus unserer Beobachtergruppe kommentierte: “Da kannst du eigentlich nur alles falsch machen.” Das Szenario führt in die Grenzbereiche menschlicher Existenz. Diese existenzielle Dimension spürt man auch als Beobachter. Vielleicht sollte ich das als dritten Begriff wählen.
SAK: Karsten, hast du denn eine Idee davon, wie Ethik bei der Bewältigung genau dieser existentiellen Dimension im polizeilichen Alltag helfen kann? Man könnte ja eigentlich von einem existentiellen Grundrauschen sprechen, oder?
KD: Ja, existentielles Grundrauschen trifft es ganz gut. Die Rolle der Ethik ist dabei komplex. Ethik wird oft als „Theorie der Moral“ bezeichnet und dadurch Moral und Ethik unterschieden, obwohl beide Wörter ursprünglich das gleiche bedeuten. Ich würde den Begriff gerne weiter fassen und neben moraltheoretischen Fragen der Richtigkeit auch Fragen nach dem Guten darunter fassen. Es ginge dann z.B. nicht darum, Normen zu reflektieren und zu begründen, sondern aus einer persönlichen Perspektive heraus nach moralischen Erfahrungen zu fragen, nach individuellen Wertvorstellungen und persönlicher Verantwortung und wie das mit Wert- und Moralvorstellungen anderer zusammenpasst.
Man könnte vielleicht Ethik als Kunst verstehen, eine andere moralische Perspektive einzunehmen. Da steckt zweierlei drin: Ethik ist eine kreative Praxis, den eigenen Beruf und das eigene Leben verantwortlich zu gestalten. Ethik ist aber auch die Fähigkeit, moralisch zu reflektieren, zu urteilen und danach zu handeln. Wenn ich es recht bedenke, stecken darin gleich zwei für mich wichtige Begriff drin: Perspektivität und Verantwortung.
SAK: Also muss ich in der Konsequenz verstehen, dass meine Wahrheit immer meine Perspektivität widerspiegelt und ich nicht ohne den Austausch mit anderen und den Wechsel der Perspektive verantwortlich handeln kann. Das Problem ist aber, dass Polizistinnen und Polizisten am Ende alleinverantwortlich dastehen, denn sie haben ja immer den Ermessenspielraum, innerhalb dessen sie ihre Entscheidungen treffen können und müssen. Mir scheint der Begriff der Verantwortung zentral. Ein Polizist, der große und gravierende Lagen lösen musste, hat mir gegenüber einmal gesagt, dass nicht alle immer nur vom Post-Shooting-Trauma sprechen sollten. Er beschrieb seine Belastung als ein Post-Verantwortungs-Trauma. Hätten ihm mehr Perspektivwechsel im Vorfeld gutgetan?
KD: Die Perspektive wechseln heißt für mich, etwas von einem anderen Standpunkt oder unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten. Ich glaube, dass Perspektivwechsel deshalb hilfreich sind, weil sie unsere moralische Urteilskraft stärken. Zur moralischen Urteilskraft gehört, die Auswirkungen meiner Handlungen auf andere zu verstehen, Empathie zu entwickeln und auf der Grundlage eines umfassenden Verständnisses der Situation Entscheidungen zu treffen. Es kann sein, dass ich in einer Situation etwas tun muss, was mein moralisches Empfinden und damit meine moralische Integrität verletzt. Das hängt mit Gefühlen von Schuld, Versagen, Selbstvorwürfen, Scham etc. zusammen, weil ich meine eigene Verantwortung erkenne. Man spricht hier auch von Moral Injury.
Dass wir am Ende für unser Tun die Verantwortung tragen, gilt ja nicht nur für Polizist:innen, sondern für alle Menschen. Gleichwohl kann die Entscheidung von Polizist:innen für sie belastender sein, weil sie als Träger des staatlichen Gewaltmonopols gravierend in die Rechte von Bürger:innen eingreifen dürfen. Entlastend kann vielleicht sein, dass das gleiche Tun, das einem Täter schadet, einem Geschädigten hilft. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es dann hoffentlich, am Ende des Tages doch in den Spiegel schauen zu können.
SAK: Ja, das wäre doch ein gutes Ziel polizeilicher Berufsethik: Am Ende jedes Tages in den Spiegel schauen zu können!
Danke für deine Einblicke, Karsten, und dir weiterhin viel spannende Entdeckungen in deinem neuen Tätigkeitsfeld.