Impuls zum Buß- und Bettag

Es braucht nur Milisekunden, um jemanden einzuschätzen. Ein kurzer Blick in ein unbekanntes Gesicht genügt. Das läuft völlig unbewusst ab. Bevor mein Kopf sich einschaltet, habe ich längst die Kompetenz oder Vertrauenswürdigkeit meines Gegenübers beurteilt. Kommen Stimme und Gesten dazu, dauert es nur wenige Sekunden, dass ich mir eine erste Meinung bilde – die allerdings außerordentlich schwer wieder zu ändern ist.
Damit bin ich nicht allein. Forschung aus der Wahrnehmungspsychologie bestätigen immer wieder: So ticken wir Menschen. Das steht auch in Verbindung mit dem sogenannten Halo-Effekt: Ist mir eine Person sympathisch, halte ich sie eher für klug und ehrlich. Macht sie etwas falsch, bin ich leichter geneigt, nachsichtig zu sein. Sie trägt quasi einen Heiligenschein (Halo), der die ganze Person und alles was sie tut, in ein freundliches Licht taucht. Der Horn-Effekt bewirkt genau das Gegenteil: Sehe ich Teufelshörner und traue ich der Person allerlei Bosheiten zu. Fehler wiegen dann doppelt schwer.
Vermutlich ist das in der menschlichen Entwicklung begründet, dass wir so schnell Urteile fällen. In früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte mag es überlebenswichtig gewesen sein, in Bruchteilen von Sekunden über „gefährlich“ und „harmlos“ zu entscheiden. Halo- und Horn-Effekt sparen Zeit, gehen aber auf Kosten von Wahrheit und Wirklichkeit.
Paulus hat mal davon geschrieben, dass es diesen Effekt bei Gott nicht gibt. Weder ein guter Ruf noch ein schlechter Eindruck können Gott blenden. Gott sieht, was ein Mensch tut – das allein zählt, um jemanden zu beurteilen: Gott ergreift keine Partei. Martin Luther hat das wunderbar so übersetzt: „Es gibt kein Ansehen der Person bei Gott.“ (Römer 2,11)
Wir sind dagegen mit dem Urteil schnell dabei – mit dem positiven wie mit dem negativen. Gott sieht tiefer: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7) Es ist kein neuer Gedanke, den Paulus hier notiert, sondern er zieht sich durch die ganze Bibel: Gott sieht durch die Oberfläche der Äußerlichkeiten hindurch und erkennt, wie wir wirklich sind.
Heute ist Buß- und Bettag. In evangelischer Tradition geht es an diesem Tag darum, sich die eigenen Schwächen und Fehler einzugestehen. Auch unsere verzerrten Wahrnehmungen und schiefen Ansichten. Und vielleicht in das alte irische Gebet einzustimmen: „Du König der Könige, segne meinen Blick.“
Karsten Dittmann, Pfarrer
Foto: pixabay.com

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